Dieser Essay entstand als interne Auftragsarbeit der HMC und entspricht somit nicht dem klassischen HMC-Blogartikel-Format. Dennoch möchten wir unsere Gedanken zu diesem Thema mit Ihnen teilen und hoffen, dass er Ihnen als Inspiration dient, sich darüber hinaus mit dem spannenden Thema Chaos-Theorie auseinanderzusetzten.
Viel Spaß nun bei der Lektüre!
1. Vorwort
Der Begriff „Chaos“ wird umgangssprachlich häufig benutzt, wenn etwas ungeordnet oder unkalkulierbar ist. Doch, was bedeutet dieser Begriff aus wissenschaftlicher Perspektive? Gibt es heutzutage nicht einen Bedarf an Personen, die besonders gut mit „Chaos“ umgehen können – man denke beispielsweise nur an die aktuelle Corona-Krise? Was wären Fähigkeiten, die eine Person bräuchte, um auch in unsicheren und unkalkulierbaren Zeiten arbeitsfähig zu bleiben? Gerade vor dem Hintergrund der Achtsamkeits-Bewegungen in der Populärkultur scheint es hier ein großes Bedürfnis an Rückzug, Innenkehr und einem bewussteren Leben zu geben.
Im Folgenden wird eine kurze Übersicht über die sogenannte „Chaos-Theorie“ in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen gegeben, die allerdings keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, sondern der Einordnung der Theorie dient. Im weiteren Verlauf wird eine Definition von „Chaos“ aufgezeigt sowie ein kleiner Exkurs in die Synergetik gemacht, um das Wesen des „Chaos‘“ besser zu verstehen. Des Weiteren wird beschrieben, wie man im Sinne einer Chaos-Theorie auf die Zukunft blickt und wie eine Chaos-Kompetenz aussehen würde.
Dieser Essay dient einer theoretischen Auseinandersetzung mit einem Konstrukt (der Chaos-Kompetenz), das in Zukunft eine Vielzahl verschiedener Fähigkeiten und Kompetenzen unter diesem Oberbegriff zusammenfasst.
2. Die „Chaos-Theorie“ in der Wissenschaft
In der Mathematik und auch in der Physik ging man bis ins 20. Jahrhundert häufig noch von konstanten, linearen Prozessen aus. Sprich: Ursache und Wirkung ließen sich in den Modellen der Physik hervorragend erklären. Doch spätestens seit der Entdeckung der Quantenmechanik wurde dieses, bis dahin geltende Wissen in seinen Grundfesten erschüttert.
Einen großen Beitrag zu diesem Umdenken hatte – neben der theoretischen Physik – besonders die Erfindung der Computer und die Entwicklungen in der IT. Nun konnten komplexe Systeme schnell und zuverlässig berechnet werden, für die Mathematiker*innen ansonsten unfassbar viel Lebenszeit investiert hätten.1 Plötzlich standen Rückkoppelungen – die man bis dato schon kannte, aber als vernachlässigbar, da zu schwach, abtat – sowie minimalste Veränderungen in den Ausgangsituationen im Zentrum der Aufmerksamkeit.
An dieser Stelle kurz ein Beispiel für eine Rückkopplung, das zeigt, welche Ausmaße diese Komplexität erreichen kann:
1887 wurde von der Schwedischen Akademie der Wissenschaft ein Preis für die Beantwortung der folgenden Frage ausgegeben: „Ist das Sonnensystem stabil?“ Diese auf den ersten Blick scheinbar einfache Frage – da die Bewegungen von Bahnen der Planeten als Inbegriff des Ewigen und Stabilen galten – stellte sich zu dieser Zeit als unlösbar heraus. Forschende im Bereich der Astronomie konnten zwar die Bewegung eines Körpers um einen zweiten berechnen, aber eine Berechnung unter der Berücksichtigung der Wechselwirkungen aller (damals noch anerkannten) neun Planeten war faktisch unlösbar.2
Es stellt sich die Frage, wie die Menschen so lange ohne eine Befassung mit dem Chaos, das durch Rückkopplungen entsteht, auskommen konnten.
„Bedeutsame Teile unserer Welt haben sich in der Tat in den letzten Jahrzehnten so gewandelt, dass die für die Chaos-Problematik so entscheidende Vernetzung der Teilprozesse faktische Realität geworden ist. Damit fordert das Systemverhalten auch grundsätzlich andere Beschreibungen als das „klassische“ Verhalten relativ isolierter […] Einzelteile eines Gesamtsystems.“3
Durch diese globale Vernetzung und damit auch die vielen einzelnen Wechselwirkungen ist es heutzutage nicht mehr möglich, die Konsequenzen und Auswirkungen einer einzelnen (z.B. politischen) Entscheidung auf alle anderen Systeme zu berechnen.
Eine schöne Metapher genau dieses Zusammenspiels formulierte Edward Lorenz: „Flattert ein Schmetterling in Brasilien, beeinflusst er dadurch die Atmosphäre und kann damit zu einem Wirbelsturm in Texas beitragen.“ Dies nannte er den Schmetterlingseffekt.4
Heutzutage beschäftigen sich neben der Mathematik und Physik die unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen mit Chaos – oder anders gesagt mit Prozessen „die man nicht […] analytisch und ursächlich auf die Eigenschaften ihrer Einzel-„Faktoren“ zurückführen“5 kann und somit auch nicht eindeutig vorhersagbar und steuerbar sind.
Auch in der Medizin wurden Lebensvorgänge in Tieren und Menschen lange nach diesem Ursache-Wirkungs-Schema verstanden. Im 17. Jahrhundert wurde beispielsweise mit der Entdeckung des Blutkreislaufes das Herz als Zentralmotor eines peripheren Röhrensystems aufgefasst.6
Ähnlich verhält es sich mit der Psychologie. Nach den klassisch-behavioralen Ansätzen gingen (und gehen heute noch) Vertretende dieser Theorie davon aus, dass das menschliche Verhalten allein über Reflexe erklärbar und voraussagbar sei. Aufgrund dieser Vorstellung entwickelten sich Konditionierungstechniken und verschiedenste Ansätze, wie Menschen und Tiere durch Umwelt-Reize manipuliert werden können. Einige dieser Ansätze, beispielsweise bei Konfrontation mit Ängsten, stellten sich Rekonditionierungen und Imitationen als wirkungsvoll heraus. Diese Ansätze halten innerpsychische Einflüsse allerdings für verzichtbar.7
2.1 Chaos und Ordnung – Definition
Von einer chaotischen Systemdynamik spricht man also, wenn ein System bei der kleinsten Veränderung sensibel reagiert, wie zum Beispiel beim Wetter.
„Ein solches System ist nur über kurze Zeiträume hinweg prognostizierbar. Aber auch eine chaotische Systemdynamik wird von einem vollständig determinierten System erzeugt. Daher sind chaotische Strukturen, wenn auch im Detail nicht prognostizierbar, so doch hoch geordnet. Es handelt sich um hoch geordnete, hochkomplexe dynamische Muster.“8
Somit ergibt sich, dass obwohl chaotische System nicht prognostizierbar ist, sind diese Muster dennoch geordnet und nicht zufällig.
3. Blick auf die Zukunft aus Sicht der Chaos-Theorie
In einem klassisch-kausalem determinierten Weltbild ergibt sich die Zukunft zwingend aus den Bewegungen der Teilchen (z.B. Atome) der Gegenwart, ebenso wie sich die Bewegungen der Vergangenheit zurückverfolgen lassen. In der Quantenphysik ist die Zukunft allerdings deutlich offener. „Allein eine Wahrscheinlichkeitswolke möglicher Entwicklungen kann aufgezeigt werden, ohne dass wirklich exakte Vorhersagen möglich sind.“9 Wie passend und sinnvoll eine Prognose für die Zukunft ist, hängt nicht zuletzt auch vom jeweiligen System und dessen Ausmaß an Chaotizität ab.
Diese Erkenntnis erscheint aus heutiger Sicht nicht ungewöhnlich. So gibt es doch immer wieder sogenannte Gurus, die meinen, die Zukunft oder Entwicklungen vorauszusagen zu können, doch wissen die meisten von uns, dass es diese Personen lediglich auf die Geldbeutel derer abgesehen haben, die ihnen Glauben schenken. Nichtsdestotrotz werden die wissenschaftlichen Erkenntnisse auch überhört. Denken wir an die aktuelle Corona-Krise: Hierzu gab es zahlreiche Studien und Berechnung über die Wahrscheinlichkeit und weltweite Ansteckungsketten. Vorsichtsmaßnahmen oder spezifische Katastrophenszenarien spielten – wenn überhaupt – eine geringe Rolle.
4. Der Umgang mit dem Chaos – Chaos Kompetenz
Der Mensch ist darauf programmiert, Ordnung, Muster und Zusammenhänge zu erkennen. Dies dient dazu, die Fülle an Informationen und Flut an Sinneseindrücken zu organisieren. Wie so oft gibt es Menschen, die mehr dazu neigen, Zusammenhänge zu sehen (oder auch sehen zu wollen, wo ggf. keine sind – beispielsweise bei Verschwörungstheorien), doch grundsätzlich besitzen alle Menschen diese Fähigkeit.
Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis überrascht es weniger, dass auch in den Wissenschaften lange am deterministischen – also Ordnung schaffenden – Weltbild festgehalten wurde. Die Auseinandersetzung und Akzeptanz der komplexen und chaotischen Vorgänge in uns selbst und um uns herum ist manchmal nicht leicht. Je nach Vorlieben, Erfahrungen und Charakter der Person kommt diese besser oder schlechter mit Veränderungen und Unsicherheiten klar. Bezogen auf den Umgang des Menschen mit Chaos stellt sich also die Frage, wie eine „Chaos-Kompetenz“ aussehen könnte, die es uns erlaubt in einer chaotischen Welt und besonders in unsicheren oder instabilen Zeiten zurecht zu kommen.
„Ich weiß, dass ich nichts weiß“ ist ein Zitat, das Sokrates zugeschrieben wird. In diesem Ausspruch steckt ein ganz wichtiger Baustein im Umgang mit einer kaum bis nicht kalkulierbaren Umwelt: Akzeptanz. Dieser Akzeptanz umfasst z.B. auch die Akzeptanz, nicht alles kontrollieren zu können. Denn, wenn der Schmetterling aus Brasilien in Texas den Wirbelsturm auslöst, kann man bestenfalls noch über Frühwarnsysteme nachdenken. Den Sturm stoppen oder am Entstehen hindern kann man jedoch nicht. In diesem Kontext ist es notwendig, die eigenen Fähigkeiten zu kennen und richtig einschätzen zu können, um nicht gegen die metaphorischen Windmühlenräder anzukämpfen. Vielmehr muss Energie an den Stellen investiert werden, an denen realistischerweise etwas erreicht werden kann. Nur wer sich selbst und die eigenen Stärken und Schwächen kennt, kann in unsicheren Situationen die richtigen Entscheidungen für sich und den eigenen Verantwortungsbereich treffen.
Eine weitere wichtige Strategie – gerade auch im Hinblick auf die Evolution – sind Anpassung und Flexibilität. Nicht nur wir Menschen, sondern auch Tiere und Pflanzen passen sich an ihre Umwelt an. Allerdings haben wir Menschen uns unsere Umwelt so sehr „zurechtgestutzt“, dass wir diese Fähigkeit mitunter vergessen haben. Für den Umgang mit dem Chaos geht es also auch darum, sich in neuen Situationen zurechtzufinden, arbeitsfähig zu bleiben und flexibel auf neue Situationen reagieren zu können. Dazu gehört auch die Resilienz – sprich die psychische Widerstandskraft und Fähigkeit, schwierige Berufs- und Lebenssituationen ohne anhaltende Beeinträchtigung zu überstehen10. Ohne eine ausreichende Resilienz ist die Wahrscheinlichkeit, bei zu viel Chaos (im Beruf meist gepaart mit Druck) krank zu werden, deutlich erhöht. Der Zusammenhang aus fehlender Resilienz und größerer Komplexität der heutigen Zeit in der westlichen Gesellschaft (hier am Beispiel von Deutschland) lässt sich gut aus Statistiken erkennen, die eine gestiegene Anzahl an psychischen Krankheiten erkennen lassen.11 Aufgrund dieser aktuellen Tendenzen verwundert es wenig, dass sich immer mehr Menschen mit dem Thema Resilienz und Achtsamkeit beschäftigen. Yoga, Meditation und Achtsamkeitsübungen sind längst in Europa angekommen und aus dem Alltag vieler Menschen nicht mehr wegzudenken. Dieses Bedürfnis nach Selbstfürsorge und Innehalten bzw. in sich gehen, bedeutet einen Ausgleich zu schaffen für eine schelle, fordernde und chaotische (Arbeits-) Umwelt.
Eine solche Chaos-Kompetenz ist heute für jede*n wichtig, doch besonders Führungskräfte, medizinisches Personal und Politiker*innen sollten diese trainieren, da sie nicht nur Verantwortung für andere Menschen tragen, sondern auch Entscheidungen treffen, die Konsequenzen für andere (Menschen, Systeme) haben, die nicht bis ins kleinste Detail kalkulierbar sind.
5. Fazit
Lange Zeit ist die Wissenschaft von einer deterministischen Umwelt ausgegangen und tat sich im 20. Jahrhundert mit dem Aufkommen der Quantenmechanik in der Physik schwer, eine chaotische und häufig nur mit Hilfe von Wahrscheinlichkeiten kalkulierbaren Umwelt zu akzeptieren. Mit der Entwicklung von Computern wurde es möglich, chaotische Systeme zu berechnen und so fanden sich trotz der Unvorhersagbarkeit dieser Systeme doch auch geordnete und dynamische Muster. Diese Erkenntnisse waren auch für andere Disziplinen wichtig wie z.B. die Psychologie, Soziologie oder Wirtschaft.
Bezogen auf den Menschen sind diese Erkenntnisse extrem relevant, da sich die (Arbeits-) Umwelt im Laufe der Jahrzehnte deutlich verändert hat. Durch die neuen Technologien und die Globalisierung sind die Anforderungen an viele Menschen gestiegen. Um mit diesen gestiegenen Anforderungen, der Schnelligkeit und des Drucks zurechtzukommen, bedarf es unterschiedlicher Fähigkeiten. Die Chaos-Kompetenz fasst diese Fähigkeiten unter einem Begriff zusammen und besteht aus mehreren Elementen wie Akzeptanz, Selbstreflexion, Anpassung, Flexibilität und Resilienz. Solche Kompetenzen sind besonders für Führungskräfte wichtig, da diese eine zusätzliche Verantwortung für andere mittragen und Entscheidungen nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Mitarbeitenden und das Unternehmen treffen müssen.
Mit diesem Essay wurde somit ein Oberbegriff verschiedenster Qualitäten und Fähigkeiten erschaffen – die nicht im eigentlichen physikalischen oder mathematischen Sinne zu verstehen sind, jedoch an die Vorarbeiten angelehnt sind – um in der Praxis ein Konstrukt zu haben, das beispielsweise erlaubt, Führungskräfte auf ein solches Ensemble an Fähigkeiten zu testen und/oder zu trainieren.
Abbildung:
©Cristina Conti
Fußnoten:
1 Vgl. Kriz, Jürgen. Systemtheorie. Eine Einführung für Psychotherapeuten, Psychologen und Mediziner. Wien: Facultas Universitätsverlag, 1997. S. 13ff.
2 Vgl. ebd. S.17.
3 Ebd. S.19.
4 Vgl. Anonym. Als der Schmetterlingseffekt ein Chaos anrichtete. Edward Lorenz. BR Wissen. Online: https://www.br.de/wissen/edward-lorenz-meteorologe-schmetterlingseffekt-chaostheorie-100.html.
5 Kriz. S. 21.
6 Vgl. Strunk, Guido u. Schiepek, Günter. Systemische Psychologie. Eine Einführung in die komplexen Grundlagen menschlichen Verhaltens. München: Spektrum Akademischer Verlag, 2006. S. 13.
7 Vgl. ebd. S. 27ff.
8 Ebd. S. 73.
9 Ebd. S.111.
10 Vgl. Duden. Resilienz. https://www.duden.de/rechtschreibung/Resilienz.
11 Vgl. DAK. Psychoreport 2019. Entwicklung der psychischen Erkrankungen im Job. https://www.dak.de/dak/download/190725-dak-psychoreport-pdf-2125500.pdf. S. 2f.